Es ist der 27.April 1945. In weiten Teilen Österreichs wird noch gekämpft, aber in Wien schweigen die Waffen bereits, denn die Rote Armee hat hier schon gewonnen. Die Nazis sind verschwunden, dafür ist Wien auf einmal gefüllt mit überzeugten Kommunisten. Mancher aus dessen Fenster bis vor kurzem noch die Hakenkreuzfahne hing, schmückt sich jetzt mit Hammer und Sichel. Und an diesem Tag schicken sich die drei Parteien SPÖ, KPÖ und ÖVP an die Unabhängigkeitserklärung zu unterzeichnen und die 2. Republik sowie eine provisorische Regierung zu bilden. Was mögen sich da verschiedene Menschen gedacht haben, die an diesem Tag durch Wien liefen? Gehen wir der Sache doch anhand einiger typischer Beispiele auf den Grund.
Da ist der Fleischhauer Huber, der eben über die Trümmer Richtung Parlament geht, wo ja heute die Proklamation der Republik stattfinden soll. Huber weiß nicht recht, was er davon halten soll. Kein Wunder hat er doch bis zum 9. April noch für die Gestapo gearbeitet, immer nur kleine Dienste, ein paar Hinweise da, eine Anzeige dort, nie was hohes, aber wer weiß was einem die jetzt anrechnen werden? Ich hab doch nur meine Pflicht getan und jetzt haben die anderen gewonnen. Und Sieger sind unbarmherzig, das weiß er. Dabei Nazi war er eh nie. Er ist halt für Ordnung, egal für welche. Und jetzt? Wie wird das weiter gehen? Werden wir jetzt russisch? Werden sie meinen Kopf wollen? Ich bin doch eh so demokratisch. Und ich hab auch nix gegen die Juden. Was damals mit dem Grün geschehen ist, als ich ihnen gesagt habe, dass er noch da ist? Keine Ahnung, das ist ja auch nicht meine Schuld. Ich hab doch nur meine Pflicht getan.
Von einem Fenster sieht ihn die Frau Eichberger. Sie kennt ihn, ihr Mann war ja was hohes bei der Gestapo. Und jetzt haben sie ihn geschnappt. Ihm droht ein Prozess, wegen seiner Verbrechen, wie sie das jetzt nennen. Ich hab ihm gesagt, wir sollten gehen, bevor die Russen kommen, aber ein Deutscher flieht ja nicht vor dem Feind. Komisch nur, dass der Schirach spurlos verschwunden ist, wenn das so ist. Jetzt werden ihn die Russen als Schuldigen behandeln, er wird der Sündenbock sein und das Schwein da unten der Huber, der war ja auch dabei aber der entkommt natürlich wieder. Und das nennen die fair. Na wenn der Hitler blieben wär, hätte es soweit nicht kommen können, aber der Russe ist ja unfair. Ach da geht die Frau Ziegler, das Flittchen. „Habe die Ehre!“ Grüßt nicht, klar jetzt wo der Hitler nimmer ist, braucht man ja keine Manieren haben.
Aber die Frau Ziegler hat ihre Gründe, warum sie nicht grüßt. Weil das da oben, das ist die Frau von dem Monster, der meinen Mann am Gewissen hat. Zuerst haben sie ihm versprochen, wenn er seinen Besitz verkauft, geschieht ihm nix, dann hat er aus der Wohnung müssen und dann haben sie ihn abgeholt und der Herr Eichberger war persönlich dabei und seine Frau mit diesem bösen Grinsen. Und ich war immer freundlich zu ihr, damit mein Mann irgendeine Chance hat, aber die haben ihn nie raus lassen wollen. An Lungenentzündung ist er gestorben. Natürlich, wo er doch nie mit den Lungen Probleme hatte. Ermordet haben sie ihn, weil er ein Jude war. Mir machen die nix mehr vor.
Eben geht sie jetzt am Herren Sedlacek vorbei, der in Gedanken wieder ganz woanders ist. Weil er war ja immer eine Geschäftsmann und jetzt liegt hier alles in Trümmern. Wunderbar eigentlich? Trümmer, Ruin, das sind die besten Voraussetzungen für ein erfolgreiches Geschäft. Und dann noch eine neue Regierung. Wenn wir jetzt eine Demokratie bekommen, umso besser. Wenn die Leute frei sind kaufen sie mehr. Und wenn die Juden nicht mehr verfolgt werden, auch gut, sind auch eine Zielgruppe. Natürlich mit den Kommunisten in der Regierung da muss man schon aufpassen, aber da wird uns schon was einfallen. Auch die sind zu ködern. Ich verkauf denen den Karl Marx als neue Innovation und die fressen es. Wer ist denn das? Ausgemergelter Bursche, schaut nicht gut, aus, aber kräftig scheint er zu sein. Ein bisschen füttern und der kann arbeiten.
Der Bursche ist der Ferdl Hofmüller. Er hat sich noch nicht wirklich von der Gestapohaft erholt. Geschlagen haben sie ihn und ausgehungert. Weil er ein Kommunist war. Aber er hat überlebt. Und jetzt wird alles besser. Die Russen haben mich gerettet, haben das Land gerettet. Unsere Partei gibt es auch wieder. Eine KPÖ in der Regierung, der Koplenig, das wird unser Lenin. Wir bauen unser Sowjetösterreich, ohne Nazis, ohne Kapitalisten. Ein freies glückliches Land, so wie die Sowjetunion. Und ich bin dabei, ich durfte das erleben. Sie wollten meinen Kopf und jetzt steh ich auf den Trümmern ihres 3. Reiches und wir werden sowas nie wieder zu lassen. Nie wieder!
Der glückliche Grinser des ausgemergelten Burschen mag Fräulein Brandler erstaunt haben. der Bursche fällt ihr auf, der ist nämlich eigentlich fesch. Ein bisschen ausgemergelt und verhungert, aber wenn der ein bisschen isst… Nur was? Es ist ja nix da. Und dann noch die ständige Angst. Dauernd hast die Russen herinnen. Die Anni haben sie letzte Nacht vergewaltigt. Und die Gstettnerin soll überhaupt eine Nacht lang in den Händen von irgendwelchen besoffenen Rotarmisten gewesen sein. Mich haben sie noch nicht erwischt, aber wer weiß? Wenn das nur aufhört irgendwann.
Den Moment läuft ein Mann an ihr vorbei, eilig Richtung Rathaus. Verdammt ich komm zu spät. Der Renner wird bös sein. Als Unterstaatssekretär kann ich mir das eigentlich nicht leisten, aber bitte wer hätte gedacht, dass ich je regieren werde. Das ging alles so schnell jetzt. Auf einmal will der Renner eine Regierung aufstellen und eine Unabhängigkeitserklärung haben sie auch aufgesetzt. Und ich zu spät, na hoffentlich geht sich das noch aus.
Endlich erreicht Unterstaatssekretär Franz David das Rathaus, der Renner und auch der eigene Parteichef Koplenig geben ihm einen strengen Blick. Dann wird die Unabhängigkeitserklärung feierlich unterzeichnet. Von den Sozialisten Renner und Schärf, von den Volkparteileuten Kunschak und Figl und vom KPÖ-Chef Koplenig. Dann machen sie sich auf den Weg zum Parlament.
Renner geht so einiges durch den Kopf. Hab ich jetzt eh das richtige Dokument dabei? Die Rede hab ich im Kopf. Hoffentlich hat sich keiner gemerkt, dass ich damals für den Anschluss war. Das könnte peinlich werden. Aber die kriegen das eh nicht mit, außer vielleicht ein paar von den Kommunisten und die werden nicht einmal von den Sowjets ernst genommen. So, da sind wir. Also dann Karli mach‘s richtig. Die Zukunft Österreichs liegt in meiner Hand.
Und mit solchen und ähnlichen Gedanken ist die 2. Republik entstanden.